Frau Weiß

Jeder Taxifahrer in und um Degerloch kennt Frau Weiß*. Auch ich kenne sie schon sehr lange. Erstmals begegnet sind wir uns vor vielen Jahren, es muss Mitte 2006 gewesen sein, also ganz zu Beginn meiner Taxizeit. Damals stand ich eines Nachts allein am Degerlocher Taxiplatz, als Frau Weiß an mein Fenster klopfte und Kleingeld für den Zigarettenautomaten erbat. Leider hatte ich kaum mehr Münzen und konnte ihren Wunsch nicht erfüllen, was ich ihr aber sehr freundlich mitteilte.

Doch damit war Frau Weiß ganz und gar nicht einverstanden und so folgten prompt lautstarke Flüche in ausländischer Sprache, worauf ich ja grundsätzlich tiefenentspannt reagiere, diese allerdings kombiniert mit heftigen Tritten gegen mein Auto, was ich nie so super finde und deshalb die Flucht ergriffen habe.

Jahre später. Wir haben tiefsten Winter. Eiseskälte. Schneegestöber. Frau Weiß hat sich einen Mantel übergeworfen und läuft sichtlich in Rage vor dem Taxiplatz hin und her. Ihr Mantel steht offen. Sie trägt nur diesen Mantel. Ich rutsche tiefer in den Sitz und flehe um einen Funkauftrag, den ich dann auch glücklicherweise erhalte.

Wiederum Jahre später. Frau Weiß steuert gut gelaunt auf mein Taxi zu. Leider erkenne ich sie immer erst, wenn sie den Mund aufmacht, doch dann ist es schon zu spät. Wir fahren in ihre – glücklicherweise nicht weit entfernte – Straße. Im Auto zieht sie sich halb aus, dreht das Radio auf und singt lauthals mit. Am Ziel angekommen fordert sie mich auf, auszusteigen und mit ihr zu tanzen. Bezahlen will sie erst, wenn wir getanzt haben. Langsam wird sie auch schon wieder ungemütlich und zerrt an mir herum. Ich warte auf einen günstigen Moment, ziehe die Beifahrertür von innen zu und fahre davon, während sie halbnackt über den Innenhof hüpft. Zurück am Taxiplatz bemerke ich, dass sie beim Aussteigen einen Fünf-Euro-Schein verloren hat.

Heute stehe ich erneut in Degerloch, bekomme einen Frauen-Nachttaxi-Auftrag der SSB und warte am Platz auf meine Kundin. Frau Weiß, resolut wie immer, betritt das Feld und startet direkt einen kleinen aufgeregten Disput mit einem anderen Kollegen. Da erkenne ich sie – allerdings wieder zu spät, denn auch sie hat mich schon gesehen.

„Nachttaxi?“

rufe ich ihr etwas ängstlich zu.

„Welcher Name?“

fragt sie argwöhnisch, als würde ich sie in die Falle locken wollen.

„Für Weiß…“

An meiner Spontanität muss ich noch arbeiten, ein anderer Name und es wäre so einfach gewesen… Meine Kollegen werfen mir mitleidige Blicke zu.

„Fahr mich bis fünf Euro, ich hab kein Geld!“

(Die SSB zahlt fünf Euro als Festpreis für die Anschlussbeförderung, was darüber hinausgeht, die Kundin – so zumindest der Plan).

Frau Weiß packt meinen Arm, fordert in gewohnter Feldwebelmanier einen mir unbekannten Radiosender (herrje, immer diese Extrawünsche, von denen sich kein einziger auf einem meiner zehn sorgsam ausgewählten Speicherplätze befindet…). Als er erklingt, ist sie wieder glücklich.

„Heute ist Weihnachten!!! Fröhliche Weihnachten! Ich will Dir was schenken!“

Wie wäre es mit Geld, denke ich.

„Das ist lieb, aber wirklich nicht nötig.“

„Doch, ich schenke Dir was! Gib mir Deine Karte, dann rufe ich an und schenke Dir was!“

„Ähm, ich hab leider keine Karte. Und ich arbeite heute auch nur ausnahmsweise…“

„Was machst Du sonst?“

„Büro…“

„Büro?“

„Büro!“

„Büro… Ich schenke Dir eine Vase. Fürs Büro. Da kannst Du eine Rose reinstecken. Und noch eine CD. Hast Du hier CD? Eine Frank-Sinatra-Weihnachts-CD. Wehe, Du gibst sie einem anderen! Frankie Boy die ganze Nacht!“

Widerspruch zwecklos.

Sie verschwindet im Haus, natürlich ohne den Restbetrag zu bezahlen, und ich überlege ernsthaft, ob ich wieder abhauen soll. Doch da kommt sie schon zurück und überreicht mir feierlich eine Vase, eine CD … und eine Packung Spaghetti.

„Frankie Boy und Spaghetti Bologneeeese!“

trällert sie lauthals in die Nacht hinein.

„Pssssst!“

mache ich und renne die Stufen runter.

„Du bist so süß!“

kreischt sie und will mich einholen. Ich bin schneller.

 Foto1087

 *Name geändert

PS: Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass ich von einem ganz liebenswert beschwipsten alten Opi Milkaherzen geschenkt bekommen habe.

Da nestelt er erst ewig in seiner Tasche rum und sagt dann: „Junge Frau, Sie brauchen jetzt keine Angst haben, wenn ich hier was heraushole, ich möchte Ihnen nur was schenken!“ Maximal süß! 😀

5 Responses to Frau Weiß

  1. Walter sagt:

    Hallo Mia,
    hast du was gegen „Frankieboy“??

  2. […] Und – man hätte es kaum erwartet – auch Mia aus meiner alten Heimatstadt Stuttgart meldet sich hin und wieder und erzählt die ein oder andere bewegende Geschichte – wie beispielsweise die von Frau Weiß. […]

  3. zeilentiger sagt:

    Stark. Erleben möchte ich sie aber auch nicht unbedingt, diese Frau Weiß.

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