Es ist Wasenzeit. Das erkennt man einerseits an der plötzlichen Invasion von verdirndlten und lederbehosten Weiblein und Männlein, andererseits daran, dass sich in der Mercedesstraße alle zwei Meter Fahrgäste auf einen stürzen und ganz und gar nicht verstehen, warum man sie nicht mitnimmt.
So gern ich Winker habe, aber wenn fünf Meter hinter mir der Taxiplatz beginnt, darf ich nun mal niemanden einsteigen lassen. Ich kämpfe mich also mit aktivierter Zentralverriegelung – wer einmal sitzt, steigt nie wieder aus – durch die Menschenmenge und muss am Zebrastreifen halten. Sehr gefährliches Pflaster. Da hämmert es auch schon von allen Seiten an meine Fenster.
„Frei?“
Kopfschütteln.
„Gleich dahinten ist der Taxiplatz.“
„Ja, aber bist Du frei?“
„Nein, ich darf euch hier nicht mitnehmen, geht bitte zum Taxiplatz.“
Ein stechender Blick ins Wageninnere. Meinen Korb nimmt er als persönlichen Affront:
„Aber ich sehe keinen Fahrgast!!!“
sagt er im „Verarschen kann ich mich allein“-Tonfall und zieht beleidigt von dannen.
Ein paar Kilometer später in der Innenstadt greife ich dann doch noch einen zünftigen Wasengänger auf. Er steht mit rotweißkariertem Hemd, Lederhosen, Hosenträgern und weißen Kniestrümpfen fasziniert vor einer Leuchtreklametafel und winkt, obgleich anscheinend der Welt entrückt, nach einem Taxi.
„Nach Herrenberg… Mehr als 100?“
„Nee, weniger. Um die 60.“
„Okay. Dann … bring mich nach Herrenberg!“
beschließt er staatsmännisch.
Kurze Zeit später:
„Können wir auch Nagold machen?“
„Wir können alles machen, wenn Du mich dafür bezahlst. 😉 Und wohin genau in Nagold?“
„Puh… Nagold halt. Ich weiß auch nicht, was es da für Straßen gibt. Ich sag’s Dir dann.“
*Alarmschrillen*
Bei so großen Fahrten lasse ich mir meistens die genaue Adresse geben. Zum einen fürs Navi, zum anderen als Sicherheit, falls am Zielort entweder der Fahrgast stiften geht oder sich sonstige Probleme beim Bezahlvorgang ergeben. Man sollte ja meinen, als Taxipreller wäre man clever genug, sich Fakeadressen und -namen einfallen zu lassen, aber – und ich spreche aus Erfahrung – dem ist nicht so. Man muss die Leute nur da abholen, wo sie stehen, und manche machen’s einem wirklich leicht.
„Ich wohne ja nicht direkt in Nagold. Ein Dorf weiter…“
So richtig festlegen wollte er sich aber auch hier nicht. Nach einer Anzahlung von 50 € war ich aber erst mal beruhigt und er fiel nach wenigen Sekunden in den Tiefschlaf.
Kurz vor Nagold stupse ich ihn mal an. Keine Reaktion.
In Nagold stupse ich ihn wieder an und flöte ihm ins Ohr. Sein Kopf kippt nach vorn.
Am Ende von Nagold stupse ich ihn mehrfach an. Erfolglos.
Die Uhr zeigt mittlerweile 80 € und ich habe keine Ahnung, in welche Richtung wir müssen.
Ich werde etwas rabiater, rüttele, schüttele und schreie. An seiner Stelle würde ich auch nicht aufwachen wollen. Als ich ums warnblinkende Auto herum gehe, seine Tür öffne und neben ihm kniend das Prozedere wiederhole, rollt von hinten eine Streife heran. Mit vereinten Kräften bekommen wir ihn wach und er scheint plötzlich wieder voll da zu sein. Einen Ausweis hat er nicht dabei, aber weil er friedlich wie ein Lämmchen dasitzt und alle Umstehenden beseelt anlächelt, fahren wir zu zweit weiter.
Er lotst mich zunächst scheinbar zurechnungsfähig durch ein paar Kreisverkehre und schläft dann wieder ein. Mitten im Satz. Aber diesmal bin ich schneller und mache ihn gleich wieder wach.
„Wohin jetzt?“
„Nooo.“
„Was?“
„No!“
Er lächelt mich an.
„Wo wohnst Du?“
„Wo bist Du denn jetzt?“
„In Nagold!“
„In Nagold bist Du?“
fragt er freundlich, als säße er nicht mit im Auto.
„Wohin musst Du?“
„Hauptbahnhof.“
Um drei Uhr morgens. Nie im Leben.
„Aha. Welche Stadt denn?“
„Stuttgart.“
Oje.
„Du kannst mich aber auch einfach hier rauslassen“,
bietet er an.
Da muss ich dann doch mal lachen. Er blickt sich indes um, als wäre er niemals hier gewesen. Nach weiteren Minuten bekomme ich zwar wieder keinen Ort, aber wenigstens eine grobe Wegbeschreibung. Sein Kopf wackelt erneut verdächtig hin und her, aber ich lasse ihn nicht einschlafen.
An einer geschlossenen Tankstelle mitten im Nirgendwo – kurz nach Iselshausen (damit sich auch wirklich jeder ein Bild machen kann, der Ortsname spricht hier für sich selbst!) – umgeben von Wäldern und Wiesen, zückt er sein Portemonnaie und will aussteigen.
Ich stecke erst mal die restliche Kohle ein. Alles, was er hat, aber nicht genug. Vier Euro schenke ich ihm notgedrungen. Dann schnalle ich ihn wieder an und rolle weiter.
„Komm, ich fahr Dich jetzt noch kurz nach Hause. Sag mir, wo Du wohnst!“
„Nein, nicht nötig. Ich laufe. Das ist vielleicht noch ein Kilometer.“
Langsam wird es anstrengend, aber ich kann ihn hier nicht ruhigen Gewissens einfach aussetzen. An jedem Wegweiser frage ich ihn, ob er in diesem oder jenen Kaffe wohne. Bei „Haiterbach“ endlich ein Treffer. In Haiterbach selbst will er wieder in der Ortsmitte aussteigen.
„Moment mal, hier jetzt oder bis nach Hause?“
fragt er unsicher.
„BIS NACH HAUSE!!!“
Dort angekommen bin ich mir nicht sicher, ob er sich das Haus nur willkürlich ausgesucht hat oder wirklich hier wohnt, aber dann verschwindet er tatsächlich in der Tür.
„Ach, und DANKE!“
ruft er mir noch nach.
Immer wieder gerne. 😉